Das Ballet national de Marseille wird seit 2019 von (La)Horde geleitet, einem Kollektiv, das Choreografie, bildende Kunst und Performance verknüpft.
Hier arbeitet es mit dem französischen DJ Rone zusammen, um ein Elektro- Tanzstück zu schaffen, das in der Schweiz einzig im Rahmen des Tanzfestivals Steps zu sehen ist. Room with a view ist die Geschichte einer erbärmlichen Zivilisation, die zusammenbricht. Eine düstere, brutale Welt, gespickt mit eisigen Umklammerungen, in der Gewalt Gesetz ist und Vergewaltigung wütet. Die Jugend grollt wie das Gewitter. Protestiert. Zeigt den Stinkefinger. Und trifft uns mit voller Wucht. Von Zirkus und Hip-Hop geprägt, erwecken 18 Tänzer*innen dieses knallharte Stück zum Leben, das dem Publikum ein aufrüttelndes Erlebnis bietet.
"Dieses Tanzstück nach Monaten der Pandemie zu sehen, ist ein echter Schock, einige Bilder erinnern an das, was wir erlebt haben (...). Die emotionale Kraft ist intensiv und ständig auf der Bühne präsent. Zwischen Umzügen in Zeitlupe, LGBT-Duos mit ihrer olfaktorischen Erotik, geschmeidigen Körpern, die sich strecken, und geschwisterlichen Reigen ist das choreografische Vokabular des Trios von selten gesehenem Reichtum."
Stéphane Capron, sceneweb.fr
Alles begann mit einer Carte Blanche. Die Tanzwelt staunte nicht schlecht, als die neue Direktorin des Théâtre du Châtelet in Paris, Ruth Mackenzie, den künstlerischen Freipass ausgerechnet Rone, dem Star der französischen Elektroszene, zusprach. Dieser wiederum engagierte für sein Vorhaben niemand Geringeren als das aufstrebende Kollektiv (LA)HORDE, das im Herbst 2019 zur Künstlerischen Leitung des Ballet National de Marseille ernannt wurde. Und das Staunen ging weiter. Rone gilt als grosser Bewunderer des multidisziplinären Kollek-tivs, und so überrascht es nicht, dass das Endresultat dieser Zusammenarbeit einschlug wie eine Bombe – im besten Sinne. «Room with a View» ist eine Wucht!
Das Stück trägt den gleichnamigen Titel wie das fünfte Album des renommierten französischen Musikers und Produzenten Rone. Dieser hat sich für diese Platte mit einem Phänomen auseinandergesetzt, das in Frankreich gerade gross diskutiert wird: Collapsologie. Hinter dem Begriff steckt eine Denkschule, die den Untergang unserer gewohnten Welt prophezeit. Globale Naturkatastrophen und die entschlossene junge Generation, die ihren «Fridays for Future»- Protest wöchentlich auf die Strasse trägt, erinnern uns beinahe täglich an die verheerenden Folgen des Klimawandels und drängen uns zu handeln. Rones Album «Room with a View» greift diese Thematik auf und trägt seinen Teil auf seine ganz eigene Art und Weise dazu bei: «Ich möchte eine Diskussion anregen, ohne die Welt zu erklären», beschreibt Erwan Castex alias Rone seine Gedanken in einem Interview. «Wir sind alle Teil des Problems, also müssen wir auch Teil der Lösung sein. Dieses Projekt stellt mehr Fragen, als es wirklich beantwortet, und das ist okay.» Die Platte wiederum dient als musikalische Ausgangslage für die Choreo-grafie von (LA)HORDE, die gemeinsam mit den zwanzig Ensemblemitgliedern des Ballet National de Marseille entstanden ist. Die Tanzperformance nimmt Rones Faden auf und spinnt diesen visuell weiter.
«Room with a View» öffnet einen Bühnenraum von Möglichkeiten, der als naturalistischer weisser Würfel konzipiert ist und in den Töne, Körper und Bilder hineinprojiziert werden, um über die sich wandelnde Welt als Ort der Menschheit nachzudenken. Das Resultat dieser Zusammensetzung ist eine einzigartige Performance, die das Publikum mit ihrem niemals endenden Beat unausweichlich in ihren Bann zieht und einlädt, für einen Moment selbst Richtung Weltuntergang auf- und auszubrechen.