Ödipus, wir ahnten es schon immer, aber hier wird es evident: Ödipus sind wir, die wir die Augen nicht öffnen wollen, in diesen Jahren der Umweltkatastrophen, Pandemien und Kriege.
Selten hat man Frauen so spielen sehen! Diese Erkenntnis (im Jahre 2023) ist erschreckend, und sie macht diese Inszenierung zum Triumph. Patrycia Ziółkowska und Alicia Aumüller spielen die ganze griechische Tragödie des «Tyrannen» Ödipus, wirklich die Ganze, alleine. Mit einem Furor und einer Energie, die man unbewusst wohl eher einer männlichen Spieldomäne zugeordnet hätte. Völlig zu Unrecht. Angefangen beim Chor werden die beiden zu Ismene und Antigone, dann zu deren Mutter Iokaste, zu Kreon, zum Seher Tiresias, zum Boten, zum Diener. Und nicht zuletzt werden sie zu Ödipus selbst: zum Vater und Bruder, zur Katastrophe und zum Fluch seiner eigenen Familie und der Gesellschaft, in der er lebt. Das ist wirklich grandios. Regie und Fassung sind unglaublich klug und präzise, ein Spiel auf technisch höchstem Niveau. Trotz der Verdichtung versteht man alles, spürt jede Figur und sieht dennoch «nur» zwei Schauspielerinnen vor dem Eisernen Vorhang – vor den Toren Thebens und denjenigen des Palastes, der eine Bühne ist.
Im Falle der Zürcher Pfauenbühne, wo die Inszenierung beheimatet ist: eine heiss umkämpfte Bühne dazu. Wer diese Zwei dort hat spielen sehen - neben anderen grossartigen Kolleg:innen des aktuellen Ensembles - möchte sie bitten, noch etwas zu bleiben. Möchte die Stadt Zürich bitten, sie noch etwas bleiben zu lassen! Mit gutem Grund erhielten die beiden Schauspielerinnen den renommierten deutschen Theaterpreis Gertrud-Eysoldt-Ring für ihren «Ödipus»: «Zwei herausragende Schauspielerinnen und ein grandioses Zusammenspiel!» so begründete die Jury ihre Wahl.
Ödipus ist schuldig und kann es nicht sehen. Er forscht überall, nur nicht an dem blinden Fleck, der er selbst ist. Er möchte Theben vor der Krise retten und bringt stattdessen Unglück, Pest, Zerstörung und Schmerz über seine Stadt und seine Familie. - Julie Paucker